Feldpostbrief vom 26.5.1944 – Landsberg

Liebe Mutter!

Sei recht herzlich gegrüßt nun wieder aus weiter Ferne. Bin gestern Abends nach hindernisreicher Fahrt hier eingetroffen. Bei meiner Ankunft in Berlin war gerade Fliegeralarm und ich hatte bei meinem Eintreffen in der Garnison dadurch acht Stunden Verspätung. Mein Ersatzhaufen ist nimmer in Schwerin sondern hier in Landsberg. Es ist ein mittelgroßes ganz schönes Städtchen und die Kaserne liegt mitten am Berg. Nach unserem Begriffe ist es jedoch mehr ein Hügel. Habe hier auch schon mehrere Kameraden meiner Feldeinheit getroffen, die mehr oder weniger schon verwundet waren. Einem meiner früheren Gruppe ging ein Auge verloren. Bin froh, dass ich nicht lauter fremde Gesichter sehe, denn sonst wäre der Kasernendient gar monoton. Im Übrigen hat sich im Dienst nichts geändert und in der Genesungskompanie ist es gottlob nicht so straff wie in regulären Einheiten. Heute hatte ich schon viel zu tun mit Sachen empfangen usw. auch geimpft wurden wir gleich wieder, obwohl ich erst im Lazarett eine Spritze verpasst bekam. So bin ich richtig müde. Auf der langen Fahrt musste ich ja meistens stehen. Von Wien bis Prag war ich am Gang zwischen Reisegepäck und Kameraden eingepfercht, dass ich mich kaum rühren konnte. Dann wurde aber ein Platz frei und ich konnte bis in der Früh sogar richtig schlummern. Morgens waren wir in Dresden und mit zweistündiger Verspätung traf ich in Berlin ein.

Während des Angriffs steckte ich am Anhalter Bahnhof mit hunderten Zivilisten und vielen Ausländern unten in den Bahntunnels. Dort war es aber sicher und ich habe kaum etwas von den Explosionen gemerkt. Erst nach der Entwarnung als ich weiter fuhr zur Friedrichsstraße, zum Bahnhof Zoo und mit dem Autobus zum Schlesischen Bahnhof konnte ich die Brände sehen und starke Rauchentwicklung. Was ich von Berlin zu Gesicht bekam, waren größtenteils nur Ruinen, Schutt und Asche. Aber der Verkehr auf den Straßen läuft wie in früheren Zeiten. Ein Rätsel ist mir nur, wo die noch ungeheuren vielen Menschen alle hausen. Alle werdens aber keine Berliner sein. Vielfach sind es ja Ausländer oder Durchreisende. Jedenfalls war ich ergriffen vom heutigen Zustand der Reichshauptstadt. Hoffentlich bleibt unsere Ostmark und Wien ein so schweres Schicksal erspart. Diese Leute hier oben machen ja Furchtbares mit.

Meine Garnison ist aber außer der Reichweite und brauchst dir keine unnötigen Sorgen zu machen. Wie lange ich noch in der Genesungskompanie bleib, weiß ich nicht, weil ich erst dem Arzt vorgestellt werde und hängt ja alles vom Befund ab. Paar Tage bin ich jedenfalls da und werde dir bald wieder schreiben. Bitte schreib mir auch gleich, liebe Mutter, und bleib gesund und wohlauf. So grüß ich dich für heute und bin mit vielen innigen Küssen immer dein Toni.

Der originale Feldpostbrief

feldpost brief anton steinacher mai 1944
Fotografie des originalen Feldpostbriefes von Anton Steinacher vom 26.5.1944 aus Landsberg an der Warthe
feldpostbrief steinacher mai 1944
Fotografie des originalen Feldpostbriefes von Anton Steinacher vom 26.5.1944 - Grenadier-Ersatz-Bataillon 457

Informationen zu diesem Feldpostbrief

Grenadier-Ersatz-Bataillon 457 – Genesungskompanie

Dieser Feldpostbrief wurde am 26. Mai 1944 in Landsberg an der Warthe (heute: Gorzów Wielkopolski in Polen) verfasst und beschreibt den Weg von Wien via Bahn hierher. Es wird von den Zwischenstationen Prag, Dresden und Berlin berichtet. Speziell die Erlebnisse in Berlin am 25.5.1944 (am Tag vor dem Verfassen des Briefes), der Reichshauptstadt, welche in diesem Feldpostbrief beschrieben werden, lassen das vernichtende Ausmaß des Krieges heute noch in Gedanken verspüren. Anton Steinacher hat sich zu dieser Zeit noch in der Genesungskompanie des Grenadier-Ersatz-Bataillon 457 befunden.

Der Weg in Berlin …

… war sehr abenteuerlich. In diesem Feldpostbrief beschreibt Anton Steinacher einige Orte, die er auf der Durchreise passiert hat:

  1. Anhalter Bahnhof
  2. Friedrichsstraße
  3. Bahnhof Zoo
  4. Schlesischer Bahnhof (heute: Berlin Ostbahnhof)

Vom Schlesischen Bahnhof wurde Anton Steinacher am Abend des 25. Mai 1944 nach Landsberg an der Warthe (deutsch: Gorzów Wielkopolski, Polen) befördert.

Was im Mai 1944 in Deutschland passiert ist:

  • Am 25. Mai 1944 plante Heinrich Himmler die Errichtung von Forschungsstätten in Konzentrationslagern. Dort sollen inhaftierte jüdische Gelehrte im Auftrag des NS-Regimes wissenschaftliche Arbeiten durchführen.
  • Im Mai 1944 war der Beginn von Verlagerungen Berliner Rüstungsbetriebe unter anderem nach West- und Süddeutschland.
  • Am 21. Mai 1944 forfert die mächtigste Frau des NS-Regimes, Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink, zum Muttertag die deutschen Frauen zu „Geburtshöchstleistungen“ auf.
  • Am 26. Mai 1944 wurde in Berlin Tegel der Österreicher (Hallein / Salzburg) Edmund Molnar im Alter von 21 Jahren wegen Wehrkraftzersetzung vom NS-Regime hingerichtet.

„An dieser Stelle gedenken wir allen Opfern des grausamen NS-Regimes und appelieren an unsere Welt, dass sich solche Ereignisse und Schicksale niemals wieder ereignen mögen!“

 

Luftangriffe auf Berlin

Bei den 310 offiziellen Luftangriffen auf die Stadt Berlin im 2. Weltkrieg scheinen hingegen die von Anton Steinacher beschriebenen Luftangriffe beim Anhalter Bahnhof am 25. Mai 1944 nicht berücksichtigt worden zu sein. Auf Wikipedia sind in diesem Zeitraum „nur“ die Luftangriffe auf Berlin am 24. und 25. März 1944 vermerkt.